
ANDERS SEIN
Sie haben keine Stimme. Also spreche ich.
Manchmal ist es schwer, anders zu sein. Nicht, weil das Anderssein falsch wäre – sondern,
weil man in einer Welt lebt, die gelernt hat, das Falsche für normal zu halten.
Ich musste für meinen Lebenshof einen Sachkundenachweis machen. Und ich finde das
richtig. Ich finde es wichtig, dass Menschen, die Tiere halten, wissen, was sie tun. Aber ich
wünsche mir, dass es Sachkundenachweise gibt, die für Menschen gemacht sind, die Leben
schützen – nicht beenden.
Ich habe mündlich und schriftlich bestanden. Ich kenne Gesetze, ich kenne Verantwortung.
Ich bin ausgebildete und ausgezeichnete Pferdewirtin. Ich erkenne Leiden, ich handle, ich rufe meinen Tierarzt,
ich trage Sorge. Und trotzdem hat man mich durchfallen lassen. Weil ich nicht wusste, wie schwer ein
Küken ist. Weil ich nicht wusste, wie man es tötet. Wie man selektiert. Wie man das Leben
aus der Hand legt, weil ein System es verlangt.
Er stand dort vorne und sprach über Tiere, als wären sie Dinge. Er nannte sie „Viecher“. Und
in mir wurde es still. Nicht, weil ich Angst hatte – sondern, weil ich spürte, dass hier gerade
etwas sehr Großes sichtbar wurde: wie tief der Mensch sich von der Ehrfurcht entfernt hat.
Ich saß dort und fragte mich, wie es sein kann, dass jemand, der Leben abwertet, darüber
entscheidet, wer als „sachkundig“ gilt. Er sagte ausdrücklich, ich sollte keine Tiere halten,
wenn ich nicht wüsste, wie man sie tötet. Und ich dachte: Wenn Mitgefühl zum
Ausschlusskriterium wird, läuft etwas grundsätzlich falsch.
Ich empfinde es als gefährlich, wenn Systeme Menschen prüfen, ohne sie zu sehen. Wenn
nicht verstanden wird, dass Unsicherheit oft kein Zeichen von Unwissen ist – sondern von
Tiefe. Von Fühlen. Von Verantwortung.
Es müsste doch darum gehen, den Menschen dahinter zu erkennen. Zu fragen: Warum
reagiert jemand so? Was bedeutet ihm Leben? Was treibt ihn an? Was will er bewahren?
Und genau da anzusetzen, wo Herz und Haltung aufeinandertreffen.
Ich glaube, unser gesamtes Bildungssystem, unsere Art zu lehren und zu bewerten, darf sich
verändern. Wir brauchen weniger Beurteilung und mehr Bewusstsein. Weniger Angst, mehr
Vertrauen. Weniger Macht über andere – und mehr Mut, Menschen in ihrer eigenen Stärke
zu sehen.
Denn Lernen heißt nicht, Wissen abzurufen. Lernen heißt, zu verstehen, zu fühlen, zu
wachsen. Und Menschlichkeit ist kein Fach – sie ist die Grundlage von allem.
Ich habe in diesem Kurs gesessen und gespürt, wie mir die Luft wegblieb. Wie das Leid
dieser Tiere durch jede Faser meines Körpers ging. Wie ich es kaum ertragen konnte, ihre
Angst zu sehen, ihre Hilflosigkeit, ihren stillen Schrei. Ich habe gespürt, wie falsch es sich
anfühlt, über „vernünftige Gründe“ zu sprechen, wenn es um das Töten geht.
Das Tierschutzgesetz erlaubt es, wenn es „vernünftig“ ist. Aber wer bestimmt, was vernünftig
ist, wenn Leben auf dem Spiel steht?
Ich weiß, dass Tiere sterben. Ich weiß, dass Menschen Fleisch essen. Ich tue es auch –
selten, wenn ich weiß, woher es kommt. Aber ich will, dass Bewusstsein bleibt. Dass wir
uns erinnern, dass jedes Tier ein Wesen ist – mit Neugier, Charakter, mit einem Willen zu
leben, mit einer Seele.
Ich will, dass sich das System ändert. Dass Menschen, die Tiere halten, nicht gezwungen
werden, Tötung zu lernen, um Sachkunde zu beweisen. Ich wünsche mir, dass man lehren
darf, wie man Leben bewahrt, statt wie man es beendet.
Denn wer Mitgefühl fühlt, wer Leben sieht, wer Angst erkennt, der trägt die wahre Sachkunde längst in sich.
Und während ich da saß, in diesem Raum, zwischen Formularen und Fachbegriffen,
umgeben von Menschen, die Tiere zu Millionen töten, merkte ich, wie alt dieses Gefühl ist:
bewertet zu werden, klein zu sein, sich nicht verstanden zu fühlen. Von denen abgelehnt zu
werden, die Macht haben, über mich zu entscheiden.
Vielleicht ist das der Grund, warum ich Menschen so selten wirklich an mich heranlasse.
Warum Vertrauen für mich Zeit braucht. Warum ich Situationen vermeide, in denen andere
über mich entscheiden könnten. Ich will nicht bewertet werden. Ich will nicht abgewertet werden. Ich will nicht, dass jemand negative Macht über mich hat, nur weil ich sage, was ich denke.
Weil ich für das einstehe, was mein Herz mir sagt. Was meine Stimme flüstert.
Ich möchte nicht verurteilt werden. Nicht abgelehnt werden. Und ich merke, wie sehr mich
das mein ganzes Leben begleitet. Wie oft Menschen versucht haben, mich kleinzureden,
mich zum Schweigen zu bringen, mich zu bewerten, weil sie sich bedroht fühlten von etwas,
das einfach nur echt war.
Ich frage mich, warum wir Menschen uns nicht gegenseitig halten. Warum wir nicht spüren,
wie schön es ist, einander zu supporten. Wie groß Gemeinschaft werden kann, wenn man
das Gute will, das Gute sieht und das Gute stärkt.
Vielleicht schütze ich mich deshalb so sehr. Weil ich immer wieder das Gefühl habe, dass
Menschen mein Licht löschen wollen. Und doch weiß ich, dass genau da mein Auftrag liegt:
nicht dichtzumachen, sondern zu leuchten.
Es ist mein nächster Schritt, diese Wunde zu heilen. Das hinter mir zu lassen, was mich klein hält.
Mich der Welt offen zu zeigen und zu fragen: Tut mir das gut oder nicht? Ich will erst fühlen,
bevor ich entscheide. Ich will den Raum spüren, den eine Begegnung öffnet, bevor ich sie
schließe. Ich will lernen, nicht aus Angst zu reagieren, sondern aus Vertrauen.
Wenn ich auf das Geschenk dieser Erfahrung schaue, dann weiß ich, es ist Zeit mich immer mehr zu zeigen. Zu leben, zu fühlen, zu sprechen, zu leuchten – trotz allem. Und vielleicht ist das das Schönste am Anderssein: dass man bleibt, wer man ist, auch wenn die
Welt etwas anderes von einem verlangt.
Aber ich weiß jetzt auch, dass in mir eine Kraft ist, die größer ist als jede Angst. Ich lasse mir
mein Leuchten nicht nehmen. Nicht von Systemen, nicht von Prüfungen, nicht von
Menschen, die vergessen haben, hinzuschauen. Und ich werde nicht still sein!
Ich wünsche mir so sehr, dass wir bei Landleben einen Ort schaffen, an dem Menschen Tiere
wieder mit anderen Augen sehen. Wo sie nachdenken. Wo sie fühlen. Wo sie achtsam
werden. Ich wünsche mir, dass sie spüren, dass Tiere eine Seele haben. Dass sie Angst
fühlen – so wie wir. Dass sie leben wollen. Dass sie Bedürfnisse haben. Dass sie lachen
können, spielen, rennen, sich wälzen, im Boden scharren, Sand baden, atmen.
Ich wünsche mir, dass Menschen das wieder sehen. Wie lustig Tiere sind. Wie klug. Wie
zärtlich. Wie sie Vertrauen schenken, wenn man ihnen Raum gibt. Ich wünsche mir, dass wir
uns begegnen – ehrlich, weich, miteinander. Dass wir better together sind. Dass Kinder
spielen können und frei sind. Dass wir wieder wissen, dass wir alle eins sind.
Ich wünsche mir, dass es in dieser Welt nicht um Kontrolle geht, sondern um Verbindung.
Dass es darum geht, uns gutzutun. Hinzuspüren. Ins Herz zu schauen. Gut miteinander zu
sein.
Verdammt – das Leben ist so anstrengend und so kurz. Ich will, dass es schön ist. Ich will,
dass es leicht ist. Ich will, dass wir wachsen und das Gute sehen. Und ja – wir dürfen
schreien, wir dürfen wütend sein, wir dürfen weinen, uns aufregen, stolpern. Aber am Ende
dürfen wir immer wieder aufstehen, uns erinnern, dass wir verbunden sind.
Wir sind doch alle eins. Und wir sollten uns stark machen, nicht klein. Uns fragen: Will ich
das? Tut mir das gut? Möchte ich Leben beenden – oder möchte ich es beschützen?
Ich wünsche mir, dass Landleben genau das ist: ein Ort, an dem wir lernen, wie schön Leben
sein kann, wenn man es achtet. Ein Ort, an dem Kinder, Tiere und Menschen sich gegenseitig
erkennen.
Ein Ort, an dem man wieder spürt, was Liebe bedeutet.
Ich werde mir mein Licht nicht nehmen lassen. Ich stehe dafür ein. Ich baue diesen Ort.
Ich halte ihn hell – für alle, die fühlen wollen, wer sie wirklich sind und worum es im Leben geht.
Ich werde nicht still sein. Ich werde sprechen und handeln für die, die leben wollen. Ich
werde ihre Stimmen in meinem Herzen tragen und ich werde sie nicht verklingen lassen.
Ich spreche für sie, weil ihr Blick die Wahrheit kennt. Ich bleibe wach für die, die niemand
sieht.
Ich werde nicht still sein.
Ich werde für die sprechen, die keine Stimme haben!
Und ich werde die Stille mit Liebe füllen – bis Mitgefühl wieder Mut bedeutet.
9. Oktober 2025

